François Roche / R&Sie(n)
François Roche (1961, Paris) ist seit 1989 Architekt und als solcher Mitbegründer und Kopf mehrerer Labels, die sich den verschiedenen Segmenten seiner kreativen Tätigkeit widmen. So ist beispielsweise New Territories, gegründet 1993, für Roche ein „spekulatives Label, das im Wesentlichen Forschungszwecken dient“. Es wird durch den androgynen Avatar „_S/he_“ repräsentiert, der es als fiktive Gestalt den Mitgliedern der Gruppe erlaubt, anonym zu bleiben. Andere Label dienen Roche und seinen Partnern dazu, „Mythomanien zu entwickeln“, wie mit MindmachineMakingMyths (M4) oder auch mit R&Sie(n), das man auf Französisch wie „Häresie“ ausspricht, eine „Fiktion des Wirklichen“ zu entwerfen. Letzteres, das als „produktives Label“ verstanden wird, dient dazu, innovative Methoden zu entwickeln und architektonische Konventionen zu unterwandern, um ausgetretene Pfade zu verlassen. Indem sie dem Zufall, dem Unterbewusstsein und den Träumen Raum geben, lösen sie eine konzeptuelle und formale Umkehr aus.
I’ve heard about (2005) ist eines der wichtigsten Forschungsprojekte des Kollektivs New-Territories_R&Sie(n). Als urbanistisches Projekt wurzelt es sowohl in der Wissenschaft als auch in einer spekulativen Wirklichkeit und in der Idee, dass die Architektur wie ein sozialer und politischer Stoffwechselkreislauf gedacht werden kann. Es handelt sich um ein Projekt interaktiven und selbstbestimmten Wachstums von durch Betonablagerungen entstehenden vertikalen Wohneinheiten, die mithilfe eines robotisierten Mechanismus entstehen, der von einem generativen Algorithmus betrieben wird. Die pneumatische Apparatur fabriziert aus faserverstärktem Spritzbeton stabile, organisch geformte Wohneinheiten. Größte Aufmerksamkeit wird gelegt auf eine demokratische Ausgewogenheit zwischen den kollektiven und individuellen Interessen. Dieser permanente Dialog, der von einem auf Open-source basierenden Konstruktionsprogramm gestützt wird, führt zu einer mobilen Gesellschaft und zu einer sich ständig verändernden Architektur. Die in der Mudam Sammlung verwahrten Modelle illustrieren in unterschiedlichen Maßstäben die Produktionsmethoden von New-Territories_R&Sie(n), seien dies nun „biologische“ Wachstumsformen, die auf Prozessen des Unfertigen beruhen oder Detailstudien eines Gewebes von bewohnbaren Wabenzellen.
Auch das Cabinet Hypnotique (2005) ist Teil dieser Untersuchungen. Ausgeführt im Maßstab 1:1, fungiert es als ein Ort für innerpsychische Wahrnehmung. Als immersiver Ort wurde es entworfen in Zusammenarbeit mit dem Philosophen und Psychoanalytiker François Roustang (1923, Loisey, Frankreich – 2016, Paris), mit Bezügen auf die okkulten Wissenschaften und auf die feministische Bewegung der „Magnetischen Schlafwandlerinnen“ („Somnambulistes Magnétiques“) des späten 19. Jahrhunderts.
Die Gesamtheit dieser Arbeiten, zu denen man noch eine Reihe von digitalen Filmen sowie ein Begleitbuch in Form eines Sozialprotokolls für die Bewohner zählen muss, das eine Reihe von sich entwickelnden Nutzungsmöglichkeiten skizziert, vermittelt die Idee einer Welt, in der die Technologie mit dem Prinzip der Selbstorganisation flirtet. Dabei wurden sie mit der Spitzentechnologie ihrer Zeit hergestellt, mit Computern, Robotertechnik, der Prototypfertigung durch selektives Lasersintern (SLS) für die Modelle sowie dem computergesteuerten Fräsen (CNC) für das Hypnotische Kabinett. Und so mag I’ve heard about zu der Überlegung führen, dass eine andere gesellschaftliche Organisation möglich ist, sichtbar anhand der Fülle der entwickelten Formen, aber auch erlebbar unter Hypnose, wenn das Kabinett aufgebaut ist. Für Roche bezieht sich dieses Projekt direkt auf das berühmte Buch Utopia von Thomas Morus (1478, London – 1535, ebenda), wobei seine zentrale Idee „fiktiv sei, ohne die Utopie.“