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Unsere Gesellschaften gestalten sich aus dem Denken heraus. Motor ihres Zusammenkommens, ihrer Reformen, ihrer Veränderungen und ihrer Revolutionen ist der menschliche Geist. „Realistische Utopien” zu schaffen – diese auf den ersten Blick paradox klingende Herausforderung ist es, die manch mutige Künstler phantastische, aber uns fremde Universen erschaffen lässt, mit denen sie die uns vertraute Alltagserfahrungen untergraben.
Tomás Saraceno sucht Grenzen zu überwinden, indem er aufblasbare, veränderliche nomadische Wohnstätten ersinnt, die Vorstellungen von Staatsgrenzen und -territorien überholt erscheinen lassen. Aus seinen Arbeiten spricht nicht nur die Experimentierfreude des Künstlers, sie sind auch eine Aufforderung an den Betrachter, die politische Welt aus dieser anderen Perspektive neu zu denken. Auf metaphorische Weise nähert sich auch Michel Paysant dem sich entwickelnden Raum einer europäischen Gemeinschaft - und damit einer der drängendsten Fragen der Gegenwart. Für Peradam (project) hat er die Grenzen aufgehoben und von symbolträchtigen Orten, wie der Brücke von Mitrovica und dem Frankfurter Börsenplatz, 55 Asphaltstücke zusammengetragen, die er in einer langsam gefilmten, kontinuierlichen Bewegung zeigt, in der sie wie sich beständig verändernde, organische Gebilde erscheinen.
Auch die experimentelle Arbeit von François Roche und seiner Forschungsplattform R&Sie(n) ist von dieser beständig sich weiterentwickelnden Dynamik geprägt. Mit seinen Modellen entwirft er innovative Stadtentwicklungskonzepte: Er ersetzt das Prinzip der Stadtplanung nach festgeschriebenen Regeln durch eine dynamische, organische Evolution, in der sich Formen nach einem energetischen Prinzip selbst hervorbringen, statt nach konkreten Plänen zu entstehen. Angeregt durch seine architektonischen Experimente, folgte François Roche gemeinsam mit dem Künstler Philippe Parreno einer Einladung Rirkrit Tiravanijas und Kamin Lertchaipraserts, sich an ihrem in Thailand entstehenden Projekt The Land zu beteiligen, einem mit seiner unmittelbaren Umgebung wie auch mit der übrigen Welt verbundenen kreativen Lebensort. Im Rahmen dieses Projekts schufen Roche und Parreno eine offene Struktur, deren Stromversorgung von der Muskelkraft eines Büffels abhängt. Mit dem Abenteuer dieser Zusammenarbeit konnten das utopische Projekt von Tiravanija und Lertchaiprasert, das zukunftsweisende Bauwerk von R&Sie(n) und die poetische Filmarbeit The Boy from Mars von Parreno sich in ihrer Entstehung gegenseitig bereichern.
Die Personen auf den Fotografien von Judith Walgenbach scheinen beseelt von Forschergeist und Experimentierfreude und erscheinen wie „typische” Gelehrte unserer kollektiven Vorstellungswelten: Grauer Kittel, nüchternes Brillengestell und den Blick aufmerksam auf die Welt und konzentriert auf ihre Forschung gerichtet, scheinen sie sich mit Phänomenen zu beschäftigen, deren Beobachtung ihnen der technische Fortschritt der Wissenschaften ermöglicht. Von ähnlich ironischer Distanz zum wissenschaftlichen Fortschritt ist auch die fantastisch anmutende Arbeit Large Hadron Collider, die Nikolay Polissky 2009 für den Grand Hall des Mudam schuf und die mittlerweile ihren Platz in der Außenanlage des Museums gefunden hat und auch dort noch immer den Betrachter zum Träumen anzuregen vermag. Die zu diesem Projekt entstandenen Zeichnungen offenbaren die zahlreichen Entwicklungsphasen der Maschine, die - gleichwohl inspiriert durch den hoch komplexen Teilchenbeschleuniger gleichen Namens - inzwischen diverse Altersspuren trägt und an einfache und dennoch faszinierende altertümliche Apparaturen erinnert.
Die bis ins kleinste Detail mit äußerster Sorgfalt ausgearbeiteten Zeichnungen von Steven C. Harvey entführen den Betrachter in eine apokalyptische Zukunft. Die komplexen Kompositionen schöpfen aus kollektiven Bildwelten ebenso wie aus fantastischen Projektionen. Der Künstler versteht sich hier nicht mehr selbst als Visionär, vielmehr bringt er Visionen zu Papier, in denen der Mensch in einem organisierten oder gar autoritären System gefangen ist. Und selbst wenn Chad McCails schematische Zeichnungen auf den ersten Blick spielerischer erscheinen, tauchen auch sie den Betrachter ein in eine Welt unerbittlicher „Naturgesetze”: Unaufhaltsam spitzt die Situation sich zu, um dem Betrachter schließlich das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
Ein ähnliches Unbehagen ruft auch die Arbeit von Michael Ashkin hervor, dessen sich in den Raum entwickelnde Installationen an typisch amerikanische trostlose Vorstädte erinnern. Die anarchische Anordnung der standardisierten Wohnhäuser macht die Brüche und Risse unserer Gesellschaft sichtbar, die sich in aller Härte auch im brutalen Licht der Kamera von Paulo Nozolino offenbaren, einem unablässig die Welt durchstreifenden Globetrotter, der auch in ihre entlegensten Winkel vordringt und mit unbedingter Offenheit und der gebotenen Zurückhaltung ein ungeschminktes Porträt der Menschheit zeichnet.
Mögen auch verschiedene hoffnungsvolle Utopien unsere Gesellschaften befruchtet haben - die Slogans vom Pariser Mai ’68 bringt Fernando Sánchez Castillo mit seinem Werk Nous sommes tous indésirables („Wir sind alle unerwünscht”) eindrücklich in Erinnerung - viele von ihnen haben nicht lange überlebt. Ganz zu schweigen von denen, die in die Fänge rigid-ideologischer und heute längst vergessener oder diskreditierter Systeme gelangten: der Mao Dollar von Filip Markiewicz, das Video The Partisan Songspiel. A Belgrade Story von Chto Delat? oder auch die Collagen von Vyacheslav Akhunov rund um die Gestalt Lenins erinnern uns an eine noch nicht allzu lang vergangene Zeit, in der die Welt noch zweigeteilt war. So mischt die Ausstellung I’ve dreamt about auf symbolische Weise Thomas Morus Stadt Amaurotum und das Panoptikum von Jeremy Betham, was von der Komplexität unserer Gesellschaften zeugt und von der Bedeutung der Fragestellungen, an denen sich Licht und Schatten unserer Projektionen entzünden.