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Lawrence Abu Hamdan, ‘Air Conditioning’, 2022. Collection Mudam Luxembourg. Acquisition 2023. View of the exhibition ‘Lawrence Abu Hamdan. Air Conditioning’, 29.03 – 09.06.2024, Mudam Luxembourg © Photo : Studio Rémi Villaggi | Mudam Luxembourg
Lawrence Abu Hamdan

Air Conditioning

Der experimentelle Künstler und „ermittelnde“ Forscher Lawrence Abu Hamdan (1985, Amman) bezeichnet sich selbst als „Geräuschdetektiv“ (private ear). In seinen Arbeiten, die um Themen wie nationale Identität, Menschenrechte, Gerechtigkeit und Erinnerung kreisen, macht er Geräuschphänomene über vielfältige Medien (Fotografie, Performance, Text, Video, Installation) erfahrbar. Entlang der Schnittstellen von politischen, rechtlichen und sozialen Konflikten untersucht er, was uns Geräusche über Fehlstellen im individuellen und kollektiven Gedächtnis verraten können.

Seine oftmals in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen, Aktivist:innen und Linguist:innen entstehenden Klangrecherchen (u. a. mit dem Forschungslabor Forensic Architecture) haben wiederholt als Plädoyer für Organisationen wie Amnesty International und Defence for Children International oder als Beweismittel bei Gerichtsverfahren vor dem britischen Einwanderungs- und Asylgerichtshof gedient.

Das monumentale Werk Air Conditioning (2022) fand kürzlich Eingang in die Sammlung des Mudam. Die über 54 Meter lange Installation in der Ostgalerie im Untergeschoss des Museums besteht aus fünfzehn Fototafeln, die mithilfe der Animationssoftware Houdini erstellt wurden, und einem 2:42 Minuten langen, erklärenden Video in Endlosschleife.

Die Entstehung des Projekts geht auf die Zeit zwischen Mai 2020 und Mai 2021 zurück. Zunächst untersuchte und kompilierte der Künstler offen verfügbare Daten aus der digitalen Bibliothek der Vereinten Nationen, um die Verletzungen des libanesischen Luftraums durch die israelische Luftwaffe über einen Zeitraum von 15 Jahren, von 2007 bis 2021 – also nach der Verabschiedung der Resolution 1701 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen infolge des Konflikts zwischen Israel und dem Libanon im Juli 2006 – zu kartografieren. Die gesammelten Informationen sind den 243 Beschwerdebriefen entnommen, die der Ständige Vertreter des Libanon bei den Vereinten Nationen in dieser Zeit an den UN-Sicherheitsrat gerichtet hatte.

Parallel entwickelte Abu Hamdan auf Basis dieser Informationen eine erweiterbare Datenbank, um sämtliche israelische Verstöße mithilfe einer interaktiven Karte aller Überflüge (inklusive Uhrzeit, Dauer, Flugzeugtyp und Flugbahn) über die Webseite AirPressure.info öffentlich zugänglich zu machen. Die Webseite enthält auch eine Referenzbibliothek mit Ton- und Videoaufnahmen zur Unterscheidung der verschiedenen Flugkörper, basierend auf Augenzeugenberichten, die während einer partizipativen Social-Media-Kampagne gesammelt wurden, sowie eine Bibliografie wissenschaftlicher Artikel über die Folgeschäden des von Militärflugzeugen erzeugten Lärms.

Zunächst ging es dem Künstler darum, eine dokumentierte Bestandsaufnahme der libanesischen Geräuschlandschaft zu erstellen und einen Überblick über die zeitliche Abfolge und Anhäufung von mehr als 22.000 solcher Ereignisse zu gewinnen. Die Auswertung der Informationen ergab, dass die durchschnittliche Dauer der Überflüge 4 Stunden und 35 Minuten betrug. Die Gesamtdauer aller Übergriffe beläuft sich auf 3.098 Tage beziehungsweise achteinhalb Jahre.

Wie lässt sich das Undarstellbare darstellen? Wie kann man Geräusche anhand von Bildern denken? Wie kann man ihnen eine Form geben? Diesen Fragen geht Abu Hamdan in seiner Arbeit nach. In den Bildern der Installation im Mudam ist ein endloser, von Rauchwolken bedeckter Horizont zu sehen. Wie beieinem Standbild sind die Töne verstummt, scheinbar dem Vergessen anheimgefallen. Zwei Dimensionen existieren hier gleichzeitig: das Auslöschen und die Spur. Der Künstler lädt uns zu einer meditativen Erfahrung ein, indem wir uns Zeit zur Beobachtung und Entschlüsselung nehmen und die veränderliche Textur der Wolken auf uns einwirken lassen. Die Bildebenen überkreuzen sich, verschränken sich, dehnen sich aus, überlappen sich und schaffen so ein komplexes Geflecht aus Zeitlichkeit und Räumlichkeit. Ziel des Künstlers ist es, Zeit auf diese Weise physisch erfahrbar zu machen.

Das dazugehörige Video funktioniert gewissermaßen als Zeichenerklärung. Jeder der 365 Zentimeter langen Fotoabzüge steht für ein Jahr, jeder Zentimeter entspricht einem Tag. Die Höhe und Dicke der Wolkenschicht stellen die Anzahl der Flugzeuge beziehungsweise die Dauer der Flüge dar. Im Jahr 2020 beispielsweise flogen 1.797 unbemannte Luftfahrzeuge (UAV, vom Typ Hermes 450 und IAI Heron TP) über den Libanon. Der August 2020 war mit 405 unbemannten Luftfahrzeugen, die das libanesische Staatsgebiet 2.212 Stunden lang überflogen, besonders verkehrsreich. Jeder Flugzeugtyp ist im Bild seiner Flughöhe entsprechend angeordnet. Die Schallreichweite der unterschiedlichen Fluggeräte schließlich – das bedrohliche Dröhnen der Kampfjets, das dumpfe Brummen der unbemannten Aufklärungsdrohnen, das ständige Surren der Minidrohnen – wird durch die Abtönung und Dichte der Wolken dargestellt.

In Air Conditioning beleuchtet Abu Hamdan die traumatischen Auswirkungen von Lärmbelastung auf Menschen, die ihr systematisch und über längere Zeiträume hinweg ausgesetzt sind – das, was der Künstler „atmosphärische Gewalt“ nennt. Er beschreibt diese Art von Umweltgewalt so: „Diese Bilder zeigen, dass die libanesische Atmosphäre ein extremes Hochdruckgebiet im globalen Wettersystem ist. Die Luft ist kein souveräner Raum, sondern eine flüchtige Verbindung – aus Lärm, Kohlendioxid, Monoxid, Stickstoffoxid, Schwefeloxid und allen anderen giftigen Emissionen des internationalen Militarismus.“

Aus dieser Untersuchung sind weitere Projekte hervorgegangen, die einander ergänzen und beleuchten. Die performative Lesung Daght Jawi (Air Pressure) konzentriert sich auf ein Jahr, genauso wie die daraus entstandene Videoinstallation The diary of a sky (2023). In dieser trägt Abu Hamdan die entsprechenden Rohdaten in Form von Tagebucheinträgen vor, in die er Beschreibungen seiner Untersuchungen einstreut und das Ganze mit Bildfolgen von Kampfflugzeugen oder Drohnen unterlegt, die den Himmel über dem Libanon kreuzen. Indem er mit der Abweichung zwischen der Geschwindigkeit und der Intensität seines Tonfalls oder seines Atems einerseits und dem ohrenbetäubenden Lärm der Flugzeuge andererseits spielt, lässt er die ständige Bedrohung spürbar werden. Mit Hilfe seiner Recherchen über vergangene und gegenwärtige Konflikte, im Libanon und andernorts, erschafft Abu Hamdan so ein sensibles Gedächtnis der Geräusche.

Er selbst bezeichnet seine Forschung als „politische Ökologie des Lärms“. Die künstlerische Umsetzung seiner Untersuchungen lassen uns Geräusche bewusst werden, denen wir sonst kaum Aufmerksamkeit schenken, und erlaubt es ihm, Erzählungen aus verschiedenen geografischen Kontexten zu rekonstruieren, die aus gängigen Narrativen meist ausgeblendet sind.

Biografie

Lawrence Abu Hamdan (1985, Amman) hatte Einzelausstellungen im Museum of Modern Art, New York (2023), in der Sharjah Art Foundation, Sharjah (2022), in Spike Island, Bristol (2022), in der Bonniers Konsthall, Stockholm (2021), im Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin (2019), in der Chisenhale Gallery, London (2018) und im Hammer Museum, Los Angeles (2017). Er erhielt 2013 den Bill Douglas Award for International Short Film und 2019 den Turner Prize, gemeinsam mit den übrigen nominierten Künstlern Helen Cammock, Oscar Murillo und Tai Shani. Abu Hamdans Arbeiten sind in bedeutenden Sammlungen aufbewart, wie in der Tate Modern, London, im Solomon R. Guggenheim Museum, New York, im Museum of Modern Art, New York, im Centre Pompidou, Paris, im Van Abbemuseum, Eindhoven, in der Arts Council Collection, London und in der Barjeel Art Foundation, Sharjah. Er lebt und arbeitet in Dubai.

Credits

Miniguides:
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Kuratorin:
  • Vanessa Lecomte