Tarek Atoui (Audio- und Miniguide)
Tarek Atoui (Audioguides)
Tarek Atoui (1980, Beirut) arbeitet an der Schnittstelle von bildender Kunst und Sound Art. Er ist bekannt für Installationen und Performances, die mithilfe von Klang und Objekten einen sinnlichen Zugang zum Raum ermöglichen. Der investigative Entstehungsprozess seiner Arbeiten umfasst Ansätze aus der Geschichte, der Anthropologie, der Ethnologie und der Musikwissenschaft. Für Atoui sind Klang und Töne Katalysatoren für menschliche Interaktion, daher arbeitet er oft mit anderen Musiker:innen sowie mit Forscher:innen und Musikinstrumentenbauern zusammen.
Die Ausstellung Waters’ Witness, die in der Grand Hall des Mudam sowie im Park Dräi Eechelen präsentiert wird, beruht auf dem von Atoui 2015 begonnenen und bis heute andauernden Projekt I/E. Es basiert auf einer gemeinsam mit den Musikern und Komponisten Chris Watson und Eric La Casa unternommenen Recherchearbeit, für die sie Tonaufnahmen machten zur Dokumentation menschlicher, ökologischer, historischer und industrieller Sachverhalte in ehemals bedeutenden Hafenstädten wie Athen, Abu Dhabi, Singapur, Beirut oder Porto. Dabei hielt sich Atoui stets in unmittelbarer Nähe zum oder gar unter Wasser auf, um mit vielfältigen Aufnahmetechniken den Klang des Meeres, der Hafenanlagen und von Materialien wie Metall, Stein oder Holz aufzunehmen.
Die Ausstellung Waters’ Witness wurde zuerst im Jahr 2020 im Fridericianum in Kassel gezeigt. Dabei wurden die Aufnahmen der ersten beiden Häfen des Projekts I/E (Athen, 2015 und Abu Dhabi, 2017) zusammengeführt. Die in dem Athener Vorort aufgenommenen Klänge erschienen „dumpf, wie in Watte gepackt“, während der Hafen von Abu Dhabi, wo große Mengen Baumaterialien wie Stahl und Rohre lagerten, „helle, scharfe und klare Töne“ lieferte. Beide Atmosphären waren in der Installation durch aus den jeweiligen Häfen stammende Materialien wahrnehmbar – die nun auch im Mudam gezeigt werden. Die Marmorblöcke aus Athen und die Stahlträger aus Abu Dhabi werden dabei wie Elemente einer Landschaft behandelt. Sie dienen zudem dazu, Klänge von sich zu geben, weshalb es den Besucher:innen erlaubt ist, sie zu berühren. Ein weiterer zentraler Bestandteil der Arbeit des Künstlers besteht im Bauen von Musikinstrumenten, die er in enger Zusammenarbeit mit Komponist:innen und Handwerker:innen fabriziert. Einige von ihnen sind Teil einer eigens für diese Ausstellung entstandenen Komposition. The Rotator (2019) zum Beispiel beruht auf dem Prinzip eines Magneten und ist in der Lage, andere Instrumente durch elektroakustische Kettenreaktionen zum Klingen zu bringen. Das unter einer Glaskuppel präsentierte The Litophone (2014) wurde aus Vulkangestein hergestellt und wird durch das Reiben eines kleineren Steines auf seiner Oberfläche gespielt.
Für die zweite Station der Ausstellung im Serralves Museum in Porto 2022 entwarf Atoui eine Reihe von Holzbehältern für pflanzlichen Kompost, die auch im Mudam zu sehen sind. Sie sind von der Umgebung des Hafens von Leixões bei Porto inspiriert, wo der Künstler angehäuftes Material und industrielle Abfälle sah, die auf ihren Export warteten. Zu dieser Komposition gehören die zufälligen Klänge, die das übrig gebliebene organische Material in Echtzeit generiert und die sich über die Dauer der Ausstellung beständig verändern werden. Zusätzliche, vom Mudam produzierte Elemente erweitern und ergänzen das sich kontinuierlich entwickelnde Projekt, hauptsächlich in Form neuer Marmorskulpturen. Diese wurden von libanesischen Handwerkern angefertigt, und in Geschäften in der Nähe des Hafens von Beirut verkauft, wo sich am 4. August 2020 eine große Explosion ereignete. Ihre Präsenz ist insofern eine physische Spur von etwas, das nicht mehr existiert. Erst vor kurzem wurden die Skulpturen in Beirut für eine Reihe von Performances verwendet, die von der dortigen Non-Profit Organisation Ashkal Alwan gemeinsam mit Atoui und einer Gruppe Studierender der Orphan Welfare Society aus der libanesischen Stadt Sidon sowie von Eric La Casa und dem Schlagzeuger Akram Hajj organisiert wurden.
Sensibel für die mündliche Überlieferung, die vor allem in der arabischen Kultur präsent ist, lehnt es Atoui ab, „Werke aufzuzeichnen: zunächst um zu verhindern, dass Ideen, die eigentlich der Allgemeinheit gehören, zum Eigentum einer einzelnen Person werden, und dann, um den Dingen die Möglichkeit zu geben, sich zu verändern und sich an ihre Zeit und ihren Ort anzupassen, ja sogar von einer Zivilisation in eine andere zu wandern.“ Mit Waters’ Witness kreiert Atoui eine Klanglandschaft, die unterschiedliche geografische und symbolische Wirklichkeiten miteinander verbindet. Es gelingt ihm, Raum und Zeit für neue Begegnungen, für einen neuen Austausch und vor allem für neue immaterielle Verbindungen zu schaffen, wie bei einer Hafenstadt, die “per se” unterschiedlichen Einflusssphären unterliegt und ein Maß ist für Wachstum und Wandel.
Die Ausstellung wird von Performances von Tarek Atoui und geladenen Musiker:innen begleitet.
Biografie
Tarek Atoui (1980, Beirut) hatte Ausstellungen im Serralves Museum, Porto (2022 und 2018); The Contemporary Austin (2022); Fridericianum, Kassel (2020); NTU Centre for Contemporary Art, Singapur (2018); Mirrored Gardens, Guangzhou (2017); Tate Modern, London (2016); Fondation Louis Vuitton, Paris (2015) und in der Serpentine Gallery, London (2012). Seine Arbeit wurde im Rahmen von bedeutenden Gruppenausstellungen präsentiert, darunter die 13. Gwangju Biennale (2021); die 58. Biennale in Venedig (2017); die 11. und 9. Sharjah Biennale (2013, 2009) sowie die dOCUMENTA 13 (2012). Atoui ist Preisträger des 2022 Suzanne Deal Booth / FLAG Art Foundation Prize. Er lebt und arbeitet in Paris.