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Sin Wai Kin, ‘The Universe’, 2023. Vidéo 4K, couleur, silencieux. 4 min 49 sec. Éd. 1/5 + 2 EA. Collection Mudam Luxembourg – Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean. Donation 2023 – Baloise © Photo : Courtesy de l’artiste et de Soft Opening, Londres
Sin Wai Kin

Portraits

Sin Wai Kin (1991, Toronto) hat für das Foyer des Mudam einen Raum konzipiert, der das narrative Potenzial von Darstellungen erforscht, um unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit zu hinterfragen. Die Ausstellung Portraits versammelt fünf Videos aus dem Jahr 2023 aus der gleichnamigen, fortdauernden Serie in einer mit weißen Vorhängen ausgekleideten Struktur. Die wie Gemälde in einem Museum präsentierten Bildschirme greifen das künstlerische Genre der Porträtmalerei auf. Die Arbeiten von Sin Wai Kin, in denen Performance, Bewegtbild, Text und Print vielschichtige Verbindungen eingehen, bedienen sich der phantastischen Literatur, um gängige Behauptungen und Gewissheiten, die durch unsere vermeintlich objektiven Vorstellungen von Realität geformt werden, zu unterlaufen. Indem sie den Status des physischen Körpers als soziales Konstrukt, das aus den mit ihm assoziierten Vorstellungen, Gebräuchen, Gewohnheiten und Fantasien hervorgeht, sichtbar machen, versuchen sie, geschlechtsspezifische und normative Konzeptionen von Identität zu überwinden. Die als Loop montierten Bilder der von Sin Wai Kin verkörperten Figuren zitieren berühmte künstlerische und literarische Werke aus verschiedenen Epochen und Kulturen und loten darüber fließende Vorstellungen von Identität und Realität aus.

Die Verkörperung der Fantasie steht bei Sin Wai Kin im Mittelpunkt einer Praxis, deren Figuren und Welten unterschiedlichen Bereichen wie dem traditionellen chinesischen Theater, dem Drag und der Science-Fiction entlehnt sind. So spielt zum Beispiel die Gestalt mit floraler Gesichtsbemalung in The Universe auf die männliche Figur des Jing in der Kanton-Oper an. Das ihr gewidmete Video bezieht sich unmittelbar auf eine um 1550 von dem chinesischen Maler, Kalligrafen und Dichter Lu Zhi (1496, Suzhou, China – 1576, China) angefertigte Darstellung der unter dem Namen „Der Schmetterlingstraum“ bekannten taoistischen Parabel aus dem Zhuangzi. Diese in der Zeit der Streitenden Reiche (476 – 221 v. Chr.) entstandene Sammlung philosophischer Schriften ist nach ihrem Autor Zhuang Zhou (369 v. Chr. – ca. 286 v. Chr.) benannt. In der Parabel träumt Zhuangzi davon, ein Schmetterling zu sein. Als er aufwacht, fragt er sich, ob er in seinem Traum ein Mann war, der davon träumte, ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der davon träumte, ein Mann zu sein. Die Geschichte greift auf subtile Weise das Thema der Verwandlung und der subjektiven Realität im Zustand des Träumens auf, das auch in anderen Arbeiten von Sun Wai Kin aufgegriffen wird, um alternative Welten zu erforschen. Sun Wai Kin identifiziert sich eigener Aussage zufolge mit der Geschichte von Zhuangzi, die wie ihre:seine eigene Arbeit „für manche wie eine frei erfundene Fantasiewelt wirkt“ und uns daran erinnert, dass „wir in einer Welt leben, in der viele verschiedene Realitäten koexistieren“.

Mehrere der Protagonist:innen von The Universe waren bereits in anderen Arbeiten zu sehen, so zum Beispiel Wai King, der Schwerenöter aus It’s Always You (2021), der hier als hypermaskuline Version des Narziss (1597-1599) von Caravaggio (1571, Mailand – 1610, Porto Ercole) neu interpretiert wird. Seine Versunkenheit in sich selbst verweist auf unsere Wahrnehmung der eigenen Identität und Existenz in Bezug zur Wahrnehmung anderer. In Change zitiert Sin Wai Kin das Selbstbildnis mit abgeschnittenem Haar (1940) von Frida Kahlo (1907 – 1954, Mexiko-Stadt), indem sie den herausfordernden Blick übernimmt, mit dem die mexikanische Künstlerin ihre eigene Maskulinität signalisiert. The Storyteller ist ebenfalls eine wiederkehrende Figur, die von Sin Wai Kin verkörpert wird und bereits in früheren Werken wie Today’s Top Stories (2020) und The Breaking Story (2022) zu sehen war. Die von der autoritären Figur des Nachrichtensprechers inspirierte Gestalt ist in einem futuristischen, wüstenähnlichen Weltraumsetting zu sehen und äußert polarisierende Ansichten und philosophische Thesen zu Themen wie Existenz, Bewusstsein und Identität. Sie nimmt die Pose von Leonardo da Vincis (1452, Anchiano, Italien – 1519, Amboise, Frankreich) Mona Lisa (ca. 1503-1506) ein und blickt uns an, während wir darüber nachdenken, welche Neuigkeiten sie uns wohl mitteilen wird. The Construct, eine Arbeit, die sich auf die surrealistische Fotografie Noire et Blanche (1926) von Man Ray (1890, Philadelphia – 1976, Paris) bezieht, stellt wiederum der Vorstellung von Binarität die inhärente Vielfalt aller Individuen entgegen, die für das Verständnis der Identitätskonstruktion wesentlich ist. Im Gegensatz zu den anderen Arbeiten werden Change und The Construct in einem immersiven grünen Raum gezeigt, der bislang stets ein integraler Bestandteil aller Präsentationen der Portraits war. Die als Chroma-Grün bezeichnete Farbe wird im Filmbereich dazu verwendet, um in der Nachbearbeitung Umgebungen oder Personen in die Bilder einzufügen. Die gleichsam von der Farbe umhüllten Figuren dieser beiden Arbeiten scheinen in einem Raum verortet zu sein, der unserer eigenen Lebensrealität nahekommt. Dadurch regen sie uns zum Nachdenken an über unsere eigenen Mutationen und was diese uns offenbaren können.

Die ständige Veränderung der Protagonist:innen verdeutlicht Sin Wai Kins Bestreben, das Konzept der geschlechtlichen Hybridität zu erforschen und unsere binären Denkmuster zu hinterfragen. Gleichzeitig können dadurch intime Aspekte der eigenen komplexen Identität behandelt werden. Mit ihren fast unmerklichen Bewegungen sprengen die lebenden Porträts die Grenzen des malerischen Genres, wenn sie die Fähigkeit des Subjekts bezeugen, den Blick der Betrachter:innen wahrzunehmen und ihn zu erwidern. Wir sehen, wie einige von ihnen den Raum betreten und in Besitz nehmen, um ihn anschließend wieder zu verlassen, sprich: wie sie sich in diesem theatralischen Raum selbst darstellen. Die außerhalb der Filminstallation platzierte gesichtslose Büste mit Perücke verortet die Figuren der Porträts wiederum in unserer eigenen Realität und lädt uns ihrerseits in ihre Welt der vielfältigen Möglichkeiten ein.

Biografie

Sin Wai Kin (1991, Toronto) hatte Einzelausstellungen und Performances in der Fondazione Memmo, Rom (2023), im Somerset House, London (2022), im Solomon R. Guggenheim Museum, New York (2022), im Museum für zeitgenössische Kunst, Zagreb (2020) und im Taipei Contemporary Art Centre, Taipeh (2018). Ihre Arbeiten wurden in bedeutenden Gruppenausstellungen präsentiert, wie im Doosan Art Center, Seoul (2022), in der Tate Liverpool (2022), im ICA, Los Angeles (2022), in der Shedhalle, Zürich (2021), im Jameel Arts Centre, Dubai (2021) und in der Hayward Gallery, London (2019). Ihre Arbeiten befinden sich in bedeutenden Sammlungen, wie im British Museum - Prints and Drawings Department, London, dem Buffalo AKG Art Museum, Buffalo und dem M+ Museum, Hongkong. Sin Wai Kin lebt und arbeitet in London.

Credits

Ort:
Mudam Foyer
Miniguides:
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Kuratorinnen:
  • Marie-Noëlle Farcy, assistiert von Carlotta Pierleoni

Baloise Art Prize 2023:
  • Der Baloise Art Prize wird in jedem Jahr an zwei Künstler der Abteilung Statements auf der Kunstmesse Art Basel vergeben. Dieser 1999 gegründete Preis zeichnet Nachwuchskünstler aus und finanziert die Schenkung eines oder mehrerer ihrer Werke an die beiden Partnermuseen. Seit 2015 ist das Mudam eines dieser beiden.