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Mary Reid Kelley  The Syphilis of Sisyphus, 2011
Mary Reid Kelley

Mary Reid Kelley & Patrick Kelley

Ich wollte ursprünglich gar keine Videos machen, aber letztendlich fand ich diese Form unwiderstehlich – die Möglichkeiten des Narrativen, der sich ausdehnenden Form. Ich konnte endlich die Figuren sehen, die ich malen wollte, aber ich sah sie erst, nachdem ich sie gehört hatte und begonnen hatte, für ihre Stimmen zu schreiben.“ (Mary Reid Kelley)

Die US-amerikanische Künstlerin Mary Reid Kelley stellt im Mudam Luxembourg neben ihrem Film This is Offal (2016), ab sofort Teil der Mudam Sammlung, auch ein Video von 2011, The Syphilis of Sisyphus, vor. Reid Kelley, die ihre mittlerweile acht Filme seit 2008 vom Skript über die Requisiten und Kostüme bis hin zu Aufnahme und Schnitt sämtlich in Zusammenarbeit mit ihrem Mann Patrick Kelley realisiert hat, hatte als ausgebildete Malerin sehr bald bemerkt, dass sie mit der Malerei allein nicht all das ausdrücken konnte, was sie wollte. Ihre Schwarz-Weiß-Filme sind Gesamtkunstwerke, in denen sie bewegte Bilder in einer expressionistisch anmutenden Ästhetik mit anspielungsreicher und wortwitziger Poesie verbindet. Im Mittelpunkt stehen stets ernste und tragische Figuren in einer betont artifiziellen Erzählung, in denen sich die Künstlerin bislang mit den Epochen des Ersten Weltkriegs, des 19. Jahrhunderts und der antiken griechischen Mythologie beschäftigte. Reid Kelleys Filme sind dabei weit von einer realistischen Schilderung entfernt, vielmehr tritt im Gegenteil, durch die künstlich-groteske Gestaltung von Sprache und Bild ein Verfremdungseffekt ein, in dem sich Elemente der griechischen, chorbegleiteten Tragödie mit solchen aus dem Epischen Theater von Bertolt Brecht verbinden, um in einer betont verdichteten Kunsthaftigkeit einen dem Thema angemessenen Ausdruck zu schaffen. Dabei ist ihr Blickwinkel stets ein feministischer, durchzieht die Fragestellung nach der sozialen Rolle der Frau doch wie ein roter Faden alle ihre bisherigen Werke.

In The Syphilis of Sisyphus verdichtet Reid Kelley den uralten Konflikt der Frauen zwischen Sein und Schein am Beispiel eines leichten Mädchens im Paris der Mitte des 19. Jahrhundert. Mit einer Anspielung auf den berühmten Text von Albert Camus verweist der Name der Protagonistin, Sisyphus, auf die Absurdität ihrer Existenz und deutet an, dass für die junge Frau die einzige Haltung in Trotz und Anpassung bestehen kann. Als frühere Revolutionärin war sie einst Anhängerin der rousseauschen Hinwendung zur Natur. Notgedrungen und pragmatisch entschied sie sich jedoch gegen die Kopflosigkeit des Umsturzes und wandte sich von der Natürlichkeit ab und der Künstlichkeit zu, wie es Charles Baudelaire, der Apologet des modernen Lebens, auf den es hier zahllose Anspielungen gibt, in seinem „Lob der Schminke“ gerühmt hatte. Als gefallene Schönheit im Paris des Jahres 1852, also des Jahres, in dem sich für Karl Marx mit der Ausrufung des Kaiserreichs durch Prinz Louis Napoléon die Geschichte als Farce wiederholte, sah sich Sisyphus schnell wegen allzu leichter Sitten ins Irrenhaus der Salpêtrière gesperrt, wo Jean-Martin Charcot später mit der Forschung über die Hysterie ein berühmtes Beispiel für einen sehr männlichen Blickwinkel abliefern sollte. Die Gaukler, die hier in einer Mischung aus griechischem Chor und französischem Vaudeville die Absurditäten des zeitlichen Rahmens abstecken, unterstreichen das Theatralische des Stückes. Reid Kelley verwendet im Text zudem mit dem anapästischen Tetrameter eine spezielle Metrik, die sowohl in der griechischen Klassik zur Einleitung einer Ode als auch in der Neuzeit für verballhornende Limericks verwendet wurde. Dieses kunstvolle Gewebe an bildlichen und textlichen Querverweisen, diese ungeheure Fülle an historischen und kulturellen Anspielungen, verbunden mit dem raffinierten Ausnutzen der videotechnischen Möglichkeiten, steht stellvertretend für den besonderen Reiz und die Tiefe der Werke von Reid Kelley.

Auch in This is Offal folgt Reid Kelley diesen Prinzipien. In spielerischer Weise rührt die Künstlerin hier an ein ernstes Thema, den Suizid einer jungen Frau. Auf verblüffende Art und Weise inszeniert sie den Streit der Organe und Körperteile der Toten, die ganz unterschiedlicher Ansicht sind über Gründe und Folgen der Tat und sich gegenseitig die Schuld zuweisen. Während das Herz naiv auf ein Weiterleben durch Transplantation hofft, sieht sich das Hirn schweren Vorwürfen durch die Leber ausgesetzt, die es für den Urheber des Unglücks hält. Der Körper selbst freut sich, der Wissenschaft dienen zu können, während der die Leiche beschauende Rechtsmediziner an seinem Job zweifelt angesichts einer solchen Sinnlosigkeit. Reid Kelley karikiert in ihrem Film gewisse literarische Klischees, wie das in dem berühmten Gedicht The Bridge of Sighs (1844) von Thomas Hood beschriebene vom Selbstmord einer „gefallenen“ jungen Frau, die aus Verzweiflung und Armut von einer Londoner Brücke springt. Gleichzeitig gibt sie einen ironischen Kommentar ab zu dem Diktum von Edgar Allen Poe von 1846, für den „der Tod einer schönen Frau [...] wahrlich das poetischste Thema auf der Erde“ war. Für Reid Kelley indes ist ihre Protagonistin „das Gegenteil von Poes Ideal“. Diese hat, auch entgegen der Vorstellung Albert Camus’ von der Revolte als Antwort auf die Absurdität des Lebens, der Versuchung zum Suizid nachgegeben, vielleicht, ohne sich der Endgültigkeit ihres Tuns voll bewusst zu sein. Denn diese betont die Künstlerin mit einem anspielungsreichen Wortspiel am Ende des Filmes, als deutlich wird, dass der Fluss nicht irgendeiner ist, sondern der Fluss zur Unterwelt: „This is the river that the boatman picks, you can’t be pulled from it, because it Styx.“

Mary Reid Kelley wurde 1979 in Greenville, South Carolina (USA), geboren. Sie lebt und arbeitet in Olivebridge, New York.

Der Baloise Art Prize wird in jedem Jahr an zwei Künstler der Abteilung Statements auf der Kunstmesse Art Basel vergeben. Dieser 1999 gegründete Preis zeichnet Nachwuchskünstler aus und finanziert die Schenkung eines oder mehrerer ihrer Werke an die beiden Partnermuseen. Seit 2015 ist das Mudam eines dieser beiden, wobei Marie-Noëlle Farcy, die Sammlungskuratorin des Mudam, Mitglied der Jury ist.

Credits

Kurator:
  • Marie-Noëlle Farcy

Künstler:
  • Mary Reid Kelley & Patrick Kelley

Baloise Art Prize 2016