Zur Navigation Zu den wichtigsten Inhalten
Les Détours de l'abstraction

Präsentation der Sammlung

„Es war der Zeitpunkt der aufsteigenden Dämmerung. Ich kam nach einer Studie mit meinem Malkasten nach Hause und war in Gedanken noch immer ganz bei der soeben abgeschlossenen Arbeit, als ich plötzlich ein Bild von unbeschreiblicher Schönheit, das von einem inneren Feuer durchtränkt war, sah. Ich blieb zuerst wie angewurzelt stehen, ging dann aber rasch auf das geheimnisvolle Bild zu, auf dem ich Formen und Farben sah, dessen Gegenstand mir aber unverständlich war. Das Geheimnis war bald gelöst: es war eines meiner Bilder, das seitlich gegen die Wand gelehnt war. Ich versuchte am nächsten Tag bei Tageslicht den Eindruck wiederzugewinnen, den ich am Vortag vor diesem Bild hatte. Das gelang mir aber nur zur Hälfte. Selbst von der Seite erkannte ich dauernd die Gegenstände, und es fehlte das feine Licht der Dämmerung. Jetzt war ich fest davon überzeugt, der Gegenstand war meinen Bildern abträglich.”

Mit diesen Worten beschrieb Kandinsky seine Eindrücke, als die Motive seines Bildes plötzlich verschwanden und etwas ganz anderem Platz machten, nämlich einer Anordnung von Formen und Farben, die ihn neue, bislang ungeahnte Möglichkeiten erkennen ließen. Die Ausstellung Les Détours de l’abstraction (Die Wege der Abstraction) greift diesen Übergang vom Gegenständlichen zum Empfundenen frei auf. Es geht darum, Werke mit einem aufmerksamen, mit einem anderen Blick wahrzunehmen, und wenn diese „Abwege” Wege sind, die uns zuweilen unerwartet von einem Punkt zu einem anderen führen, offenbart sich oftmals Überraschendes, das unsere Erwartungen übertrifft.

Fragen der Wahrnehmung, des Verschwindens und der Belebung stehen bei Gaylen Gerber im Mittelpunkt. Einer seiner Schwerpunkte besteht darin, einen neutralen grauen Untergrund zu schaffen und dann auf verschiedene Weisen zu nutzen. So schuf der Künstler, als er auf Einladung des Museums an der Eröffnungsausstellung Eldorado im Jahr 2006 mitarbeitete, unter anderem zwei riesige Backdrops, die ganze Wandflächen der Räume im ersten Stock einnahmen. Die riesigen und doch unsichtbaren Oberflächen sollten die Werke anderer Künstler zur Geltung bringen und gleichzeitig dadurch belebt werden. In Anlehnung an diese Backdrops verfolgen die Werke, die in Zusammenarbeit mit Michelle Grabner und B. Wurtz entstanden, einen ganz ähnlichen Ansatz. Seine ganz in Grau gehaltenen Bilder in etwas konventionellerem Format sind Einladungen an seine Künstlerkollegen, die monochromen Oberflächen zu beleben. Auf diese Weise lenkt Gaylen Gerber den Fokus auf etwas anderes: Es geht nicht nur darum, was man sieht, sondern um den Kontext, in dem das Werk wahrgenommen und der so bestimmend wird.

Laurent Pariente
© Commande et Collection Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean, Mudam, Luxembourg Acquisition 2007 Photo : André Morin

Auf etwas formalerer Ebene zwischen Figuration und Abstraktion präsentiert sich die Skulptur Against the Wall. Towards the Rearvon Miguel Ângelo Rocha in einem Alltagsgegenstand: einem zerlegten Schemel, von dem sich eine abstrakte Form ausbreitet. Das noch zu identifizierende Ausgangsobjekt scheint durch ein Spiel von Linien, die sich durch die Luft winden, buchstäblich im Raum zu explodieren.

Auch On Kawara und Harald Klingelhöller spielen mit den Möglichkeiten, einer Form freien Lauf zu lassen, interessieren sich jedoch mehr für die Dekonstruktion von Sprache und Sinn. On Kawara spielt dem Besucher eine Litanei von Daten vor, einen echten Zeit-Block, bei der man nach kurzem Zuhören den Faden verliert. In Harald Klingelhöllers 38 Teile in Form von 19 Zeichen für Tisch und 25 Buchstaben der Worte ‘Einmal im Leben’ werden Buchstaben zu visuellen Elementen, die bei jeder Neuinszenierung eine andere Skulptur ergeben.

Auf diese Weise entstehen Formen oder bilden sich neu, wie auch bei Raphaël Zarka. In seinem Film Gibellina Vecchia lässt er das unvollendete Werk von Alberto Burri Grande Cretto, eine Hommage an die Opfer des Städtchens Gibellina auf Sizilien, das 1968 durch ein Erdbeben zerstört wurde, wieder aufleben. In formaler Anspielung an seine Craquelé-Bilder aus den 1960er Jahren schuf Alberto Burri auf den Häuserruinen der Stadt ein monumentales Betonlabyrinth, durch das Raphaël Zarka uns hindurchführt. Seinen und unseren Blick schärfend entdeckt Zarka in den scheinbar banalsten Landschaften die Sprache der Moderne, wie auch seine Fotoserie Les Formes du repos zeigt.

© Miguel Ângelo Rocha : Against the Wall. Towards the Rear, 2007-2008, Collection Mudam Luxembourg

Jenes einzigartige Oszillieren zwischen Verschwinden und Auftauchen von Formen findet sich bei Imi Knoebel, dessen Werk auch von Malewitsch beeinflusst ist. So schweben über der Ausstellung gleich mehrere historische Vorbilder, denn Künstler wie Nicolas Chardon oder Heimo Zobernig beziehen sich klar auf das Werk von Malewitsch bzw. Mondrian, die sich beide mit dem Übergang von Formen in Zeichen auseinandersetzten. Daniel Buren seinerseits hat diesen Gedankengang noch weitergeführt und, ausgehend von einem gestreiften Vorhangstoffmuster, ein einzigartiges visuelles und sofort identifizierbares Objekt geschaffen, mit dem er die Besonderheiten und Qualitäten der Räumlichkeit ebenso zutage fördern kann wie bis dahin nicht entdeckte Formen.

Blinky Palermo, derselben Generation entstammend und an derselben Hochschule ausgebildet wie Imi Knoebel, interessiert sich besonders für diese bewusste Wahrnehmung des umgebenden Raumes. Sein Werk, geprägt durch subtile, vibrierende Farbnuancen, lässt eine romantische Sensibilität durchscheinen, die auch in den Bleibildern von Günther Förg zu entdecken ist, die sich mit der Zeit entwickeln und langsam wieder verschwinden…

Wenngleich die Arbeit von Laurent Pariente eine Reaktion auf einen konkreten Ort ist, sagt seine Vorgehensweise weit mehr über Transformation als über Enthüllung aus. Als er 2008 ein Werk in situ für den Grand Hall des Museums schaffen sollte, entwickelte er einen Irrgang, der den Besucher durch ein Spiel aus Transparenz und Überlagerungen in reine Farben eintauchen lässt. Die für die Räume der ersten Etage neu gestellten mit durchscheinenden Farbfolien bespannten Stellwände winden sich durch die Räume wie ein langer Paravent, von dem man weder Anfang noch Ende sieht, und nötigen den Besucher, einen labyrinthischen, verwirrenden Raum zu durchschreiten, der die wesentlichen Komponenten der Abstraktion in Szene setzt: Komposition, Farbe, Material, Licht.

Auf gewisse Weise finden sich diese Elemente auch im Werk von Claire Barclay wieder. Das erstmals 2009 in der West-Galerie auf der ersten Etage gezeigte Pale Heights ist eine Komposition aus skulpturalen Formen und Stoffen. Vertraute Materialien wie Leder, Kupfer oder Wolle, die gleichzeitig andeuten, aber ohne direkte Bezüge sind, gehen eine einzigartige Beziehung mit dem Raum ein und verleihen dem Werk einen Abstraktionsgrad, der umso größere erzählerische Qualitäten hat.

Historisch ist die abstrakte Kunst eng verbunden mit den Ideen der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts und mit den diversen Theorien über den damit einhergehenden Bruch insbesondere, aber nicht nur mit der figürlichen Kunst. Die Zeit der großen erzählenden Darstellungen mag inzwischen vergangen sein, nichtsdestoweniger inspiriert die Geschichte der Abstraktion weiterhin die zeitgenössische Ästhetik in all ihren Ausprägungen.

© photo : Roman Mensing Vues de l’exposition « Bruno Peinado CASINO INCAOS : Baroque Courtoisie », Casino Luxembourg – Forum d’art contemporain, 25/09/2010 – 09/01/2011